Hintergrund
Der Vitamin A Stoffwechsel ist komplex und die verschiedenen Substanznamen sind verwirrend. Alle Substanzen mit der biologischen Aktivität von Retinol werden Vitamin A bezeichnet. Hierzu zählen die Retinsäuren und die reinen, oxidierten und konjugierten Formen von Retinal und Retinol. Die Aufnahme über die Nahrung erfolgt entweder als veresterte und damit langkettige Form des Retinols (sogenannter Retinyl-Ester) oder als Carotinoide (Provitamin A) welche enzymatisch in Retinal und Retinol umgewandelt werden. Die Speicherform ist Retinyl-Ester und Speicherort ist die Leber. In den Zielzellen wird insbesondere Retinol aufgenommen und über Retinal in all-trans Retinsäure überführt. All-trans Retinsäure selber bindet an nukleäre Rezeptoren mit konsekutiver Genexpression und Transkription. (Conaway 2013)
Vitamine sind Substanzen, die der menschliche Organismus nicht endogen synthetisieren kann und deren verminderte oder fehlende Zufuhr zu spezifischen Mangelerkrankungen führt während eine übermäßige Zufuhr einiger Vitamine eine Intoxikation verursachen kann.
Die A Vitamine sind essentielle Kofaktoren der zellulären Differenzierung (z.B. Nervensystem und hämatopoetisches System), wichtig in der Erhaltung der epithelialen Barrierefunktion sowie für die Funktion des Immunsystems und der Sehkraft.
Der tägliche Bedarf an Retinol wird von der deutschen Gesellschaft für Ernährung mit 0,8mg (für Frauen) und 1,0mg (für Männer) angegeben. Die all-trans Retinsäure (Synonym: Tretinoin) wird als ein Arzneimittel in der Behandlung der Promyelozytenleukämie (AML M3) und außerdem topisch in der Behandlung verschiedener dermatologischer Erkrankungen angewendet.
All-trans Retinsäure (Synonym: Tretinoin) und beta-Carotine (als Pro-Vitamin A) wurden in Studien zur Prophylaxe der Radio- und /oder Chemotherapie induzierten Mukositis und zur Prophylaxe der Chemotherapie induzierten peripheren Neuropathie untersucht.
Es existieren sehr unterschiedliche Vitamin A-haltige Präparate von frei verkäuflichen Nahrungs- ergänzungsmitteln und Vitamin A haltigen Externa bis hin zu rezeptpflichtigen Vitamin A haltigen Medikament z.B. als Creme (wie bei der Therapie der Akne) oder als Tablette (wie bei der Behandlung der Promyelozytenleukämie (AML M3)).
Ein fachlicher Rat bei der Auswahl und Dauer der Anwendung ist, in Hinblick auf eine potentielle toxische Hypervitaminose, erforderlich.
Die Kosten für Nahrungsergänzungsmitteln bzw. Externa sind (meistens) gering. Für das, unter anderem in Studien zur Prophylaxe von Mukositis oder Chemotherapie induzierter peripherer Neuropathie angewendete, Tretinoin ist der finanzielle Aufwand mäßig bis hoch.
Wirksamkeit
Zum Einsatz in der onkologischen Supportivtherapie gibt es Ergebnisse aus Interventionsstudien zu folgenden Indikationen:
Prophylaxe der Chemotherapie-induzierten peripheren Neuropathie (CIPN) Es gibt einen Anhaltspunkt für die Wirksamkeit von ATRA zur Prophylaxe der Cisplatin und Paclitaxel (gegeben als Kombinationstherapie) induzierten Neuropathie. Hierzu wurden folgende Studien ausgewertet:
In der Studie von Arrieta et al. (2011) erhielten Patienten (n=92) mit nicht-kleinzelligem Bronchialkarzinom eine Kombinationschemotherapie mit Paclitaxel und Cisplatin. Die Interventionsgruppe erhielt ATRA 20mg/m² mit Beginn eine Woche vor der Chemotherapie bis zum Ende des zweiten Chemotherapie Kurses) während der Kontrollgruppe ein Placebo verabreicht wurde. Die Neuropathie wurde mittels elektrophysiologischer Messungen (primärer Endpunkt) und als sekundärer Endpunkt wurde die Schwere der CIPN durch den Arzt erhoben (mittels NCI-CTC). Es konnte ein grenzwertig signifikanter Unterschied bzw. ein Trend zu Gunsten des ATRA-haltigen Studienarms für elekrophysiologische wie auch Arzt erhobene Untersuchungen festgestellt werden.
Prophylaxe der oralen Mukositis während autologer/allogener Stammzelltransplantation: Es gibt einen Anhaltspunkt für die Wirksamkeit von topisch verabreichtem Beta-Carotin während einer Radiochemotherapie sowie einen Anhaltspunkt für die Wirksamkeit von Tretinoin zur Prophylaxe der Mukositis bedingt durch eine Konditionierungstherapie. Hierzu wurde folgende Studie ausgewertet:
Radiochemotherapie
In der Studie von Mills et al. (1988) erhielten Patienten (n=20) mit einem fortgeschrittenen Plattenepithelkarzinom der Mundhöhle eine kombinierte Radiochemotherapie bestehend aus Bestrahlung (bis 60Gy) und zusätzlich Gabe von Vincristin, Bleomycin und Methotrexat (200mg mit nachfolgender Leukovorin Gabe). Die Interventionsgruppe erhielt beta-Carotin (250mg pro Tag für 21 Tage und weiter 75mg/Tag während des restlichen Behandlungszeitraums) während die Kontrollgruppe keine Intervention erhielt. Die orale Mukositis wurde wöchentlich durch drei Ärzte, mittels eines Klinik-internen Bewertungssystems, erhoben. Über den ganzen Behandlungszeitraum summiert, hatten in der Interventionsgruppe signifikant weniger Patienten eine schwere Mukositis.
Stammzelltransplantation
In der Studie von Cohen et al. (1997) erhielten Patienten (n=11) mit Hämatoblastosen eine allogene (bzw. bei einem Patienten eine autologe) Stammzelltransplantation. Eine Ganzkörperbestrahlung war überwiegend Teil, des ansonsten nicht weiter beschriebenen Konditionierungsregimes. Die Interventionsgruppe erhielt eine Tretinoin haltige Creme zur enoralen Anwendung während die Kontrollgruppe keine Intervention erhielt. Die Mukositis wurde durch einen Zahnarzt (mittels eines standardisierten Bewertungssystems) erhoben. Die Schwere der Mukositis war im Interventionsarm signifikant geringer ausgeprägt und die Dauer der Mukositis im Trend kürzer als im Kontroll-Arm.
Aussagen in Leitlinien
Lt. Leitlinie der AWMF zur Komplementärmedizin (2024) "soll" Vitamin A "nicht" mit dem Ziel empfohlen werden, tumortherapeutisch oder in der Sekundärprävention das Gesamt- oder progressionsfreie Überleben von onkologischen Patienten zu verlängern oder Nebenwirkungen der Therapie zu senken. Spezifisch gibt sie eine "soll nicht" Empfehlung zum Einsatz während der Radiotherapie bei Kopf-Hals-Tumoren. Die Leitlinie zur Supportivtherapie bei onkologischen Patient*innen (2025) schreibt: "Für die Anwendung von Vitamin A mit oder ohne Pentoxifyllin, Pentoxifyllin alleine oder eine Kombination aus Vitamin E und C oral zur Therapie der chronischen radiogenen Proktitis liegt keine ausreichende Evidenz vor, um eine Empfehlung für oder gegen den Einsatz zu rechtfertigen."
Sicherheit
Eine übermäßige Einnahme von Vitamin A (aber nicht von Carotinoiden) kann zu einer toxischen (bis fatalen) Hypervitaminose A führen. Das Risiko einer toxischen Überdosierung steigt mit zunehmendem Alter ebenso wie mit einer Abnahme der hepatischen Funktion.
Zeichen einer akuten Vitamin A Intoxikation können bereits nach einer einmaligen Einnahme von 25.000IU/kg auftreten und führen typischerweise Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Lethargie durch erhöhten intrakraniellen Druck (Pseudotumor cerebri) und Hautveränderungen sowie Juckreiz. (Chea 2018)
Zeichen einer chronischen Vitamin A Intoxikation können bereits bei täglicher Aufnahme von 4.000 IU/kg auftreten und führen unter anderem zu subfebrilen Temperaturen, Hepatosplenomegalie, Hypercalciämie, Alopezie, Gelenk- und Knochenschmerzen, Kopfschmerzen und intestinale Beschwerden. (Chea 2018)
Literatur
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