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Amifostin

Hintergrund

Der phosphorylierte Aminothioalkohol Amifostin (Synonym: WR-2721 wobei WR für „Walter Reed Army Institute" steht) wird als inerter Prodrug aufgenommen und im Körper in die aktive Form 2-((Aminopropyl)amino)-ethanthiol (Synonym: WR-1065) umgewandelt. Amifostin wurde als radioprotektive Substanz in den 1960er Jahren im Zuge der atomaren Bedrohung während des kalten Krieges durch das amerikanische Militär entwickelt.

In tierexperimentellen Untersuchungen konnte nach Gabe von Amifostin eine Steigerung der tolerablen Strahlendosis bis zum Erreichen der letalen Dosis 50 (LD50) beobachtet werden. Die Rationale hierfür war die Thiol-Gruppe, die freie Sauerstoffradikale aufnehmen kann und dadurch Schäden bedingt durch ionisierende Strahlung vermindern soll. Im weiteren Verlauf wurde zum einen gemutmaßt, dass Tumorgewebe nicht von diesem Schutz profitiert, zum anderen, dass auch toxische Effekte verschiedener Chemotherapeutika (insbesondere Alkylanzien) auf normales Gewebe vermindert werden können.

Als Arzneimittel ist Amifostin zugelassen zur Reduktion des neutropenischen Infektionsrisikos bei der Kombinationschemotherapie Cyclophosphamid und Cisplatin, zum Schutz vor kumulativer Nierentoxizität bei Cisplatin basierter Therapie und zum Schutz der akuten und chronischen Xerostomie bei kombinierter, fraktionierter Standard-Strahlentherapie der Kopf-Hals Tumore.

Amifostin wurde zur Prophylaxe verschiedener Toxizitäten wie Hämatotoxizität, Mukositis, Neuropathie usw. bei unterschiedlichen Chemotherapien und bei Strahlentherapie untersucht.

Eine Überwachung des Patienten ist bei der intravenösen Verabreichung dringend erforderlich.

Es besteht ein sehr hoher finanzieller Aufwand bei einem Preis von ca. 760€ für 500mg Amifostin (Dosis in Studien bei Chemotherapie induzierter peripherer Neuropathie lag bei 740 bis 910mg/m2 pro Zyklus).

Wirksamkeit

Zum Einsatz in der onkologischen Supportivtherapie gibt es Ergebnisse aus Interventionsstudien zu folgenden Indikationen:

  • Prophylaxe der Chemotherapie-induzierten Neuropathie (CIPN): Die Auswertung von insgesamt 10 randomisierten Studien zu intravenös verabreichtem Amifostin sind divergent und zeigen nur in etwa der Hälfte eine Wirkamkeit auf die Neuropathie. Aufgrund der häufigen unerwünschten Wirkungen und des sehr hohen finanziellen Aufwandes hat Amifostin daher keinen Stellenwert in der supportiven Therapie. Diese Studien wurden ausgewertet:

    • Kemp et al führten 1996 die erste randomisierte, einfach-blinde, kontrollierte Studie mit Amifostin bei Patientinnen (n=242) mit Ovarialkarzinom durch, die eine Cisplatin basierte Chemotherapie erhielten. Die Interventionsgruppe erhielt Amifostin während die Kontrollgruppe keine Intervention erhielt. Primäre Endpunkte waren das Auftreten von Neutropenie, Infektionen und Fieber. Neuropathie als sekundärer Endpunkt wurde durch einen verblindeten Arzt (mittels NCI-CTC) erhoben. Hier konnte eine signifikant verminderte Neuropathie im Amifostin-Arm gesehen werden.

    • In der randomisierten, kontrollierten, nicht verblindeten Studie von Planting et al (1996) erhielten Patienten (n=74) mit fortgeschrittenem oder metastasiertem HNO-Tumor eine Chemotherapie isoliert mit Cisplatin. Eine Strahlentherapie war in der Studie nicht zugelassen. Die Interventionsgruppe erhielt Amifostin während die Kontrollgruppe keine Intervention erhielt. Die Neuropathie wurde durch den Arzt (mittels NCI-CTC) erhoben zudem wurde die Vibrationswahrnehmungsschwelle gemessen. Während sich für die vom Arzt erhobene Neuropathie kein signifikanter Unterschied zeigte war nach Ende der Studie die Vibrationswahrnehmungsschwelle im Amifostin-Arm isoliert an der linken Hand signifikant besser als im Kontroll-Arm.

    • In der randomisierten, kontrollierten, nicht verblindeten Studie von Gallardo et al. (1999) erhielten Patientinnen (n= 20) mit fortgeschrittenem Zervixkarzinom zur Bestrahlung Cisplatin. Die Interventionsgruppe erhielt Amifostin während die Kontrollgruppe keine Intervention erhielt. Die Neuropathie wurde durch den Arzt (mittels NCI-CTC) erhoben. Es konnte keine protektive Wirksamkeit von Amifostin festgestellt werden.

    • In der randomisierten, kontrollierten, nicht verblindeten Studie von Gelmon et al. (1999) erhielten Patientinnen (n=40) mit metastasiertem Mammakarzinom hochdosiertes Paclitaxel (250mg/m2) als Monotherapie. Die Interventionsgruppe erhielt Amifostin während die Kontrollgruppe keine Intervention erhielt. Die primären Endpunkte waren die Messung der Vibrationswahrnehmungsschwelle, Kraft (Dynamometrie), neurologische Untersuchung und ein Patientenfragebogen der Taxan induzierte neurologische Defizite abfragt. In allen erhobenen Ergebnissen konnte zwischen den Gruppen kein statistisch signifikanter Unterschied festgestellt werden.

    • In der randomisierten, kontrollierten, nicht verblindeten Studie von Kanat et al. (2003) erhielten Patienten (n=38) mit einem Bronchialkarzinom (NSCLC) eine Kombinationschemotherapie mit Paclitaxel und Carboplatin. Die Interventionsgruppe erhielt Amifostin während die Kontrollgruppe keine Intervention erhielt. Die Neuropathie wurde durch den Arzt (mittels NCI-CTC) erhoben zudem wurde eine Elektroneuromyographie durchgeführt. Im Amifostin-Arm war die Rate an Neuropathien mit Grad 1 und 2 signifikant geringer als in der Kontrollgruppe. In dieser Studie wurden keine Grad 3 und 4 Neurotoxizität gesehen. Die Ergebnisse der Elektroneuromyographie waren zwischen den Gruppen ohne signifikanten Unterschied.

    • In der doppelblinden und Placebo-kontrollierten Studie von Leong et al. (2003) erhielten Patienten (n=60) mit fortgeschrittenem nicht kleinzelligem Bronchialkarzinom (nur Stadium UICC III A und B) eine Induktionschemotherapie bestehend aus zwei Kursen Paclitaxel und Carboplatin und im Verlauf eine kombinierte Radio-Chemotherapie mit Paclitaxel. Die Interventionsgruppe erhielt Amifostin während die Kontrollgruppe ein Placebo erhielt. Die Neuropathie wurde durch den Arzt (mittels NCI-CTC) erhoben zudem wurden neurophysiologische Untersuchungen durchgeführt. Eine neuroprotektive Wirksamkeit von Amifostin konnte hier nicht gesehen werden.

    • In der randomisierten, kontrollierten, nicht verblindeten Studie von Lorusso et al. (2003) erhielten Patientinnen (n=187) mit Ovarialkarzinom eine Kombinationschemotherapie mit Carboplatin und Paclitaxel. Die Interventionsgruppe erhielt Amifostin während die Kontrollgruppe keine Intervention erhielt. Der primäre Endpunkt war die Messung der hämatologischen Toxizität. Sekundäre Endpunkte waren viele weitere Toxizitäten unter anderem die Neuropathie, welche mittels NCI-CTC gemessen wurde. In dieser Studie konnte signifikant weniger Grad 3-4 Neuropathien im Amifostin Arm festgestellt werden.

    • In der randomisierten, kontrollierten, nicht verblindeten Studie von De Vos et al. (2005) erhielten Patientinnen mit einem Ovarialkarzinom eine Kombinationschemotherapie mit Carboplatin und Paclitaxel. Die Interventionsgruppe erhielt Amifostin während die Kontrollgruppe keine Intervention erhielt. Primärer Endpunkt war die Neuropathie, gemessen mittels neurologischer Untersuchung und durch den Patienten (mittels EORTC QLQ C30) berichtet. Weder für die vom Arzt erhobenen noch die Patienten berichteten Ergebnisse konnte ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen gesehen werden.

    • In der doppelblinden und Placebo-kontrollierten Studie von Hilpert et al. (2005) erhielten Patientinnen (n=72) mit Ovarialkarzinom eine Kombinationschemotherapie mit Paclitaxel und Carboplatin. Die Interventionsgruppe erhielt Amifostin während die Kontrollgruppe ein Placebo erhielt. Der primäre Endpunkt war die Messung der Vibrationswahrnehmungsschwelle und die sekundären Endpunkte waren neurologische Untersuchung sowie die Messung der Lebensqualität (mittels EORTC QLQ C30). In dieser Studie konnte im Amifostin Arm ein signifikant besseres Vibrationsempfinden festgestellt werden zudem waren die Reflexe wie auch die 2-Punkt-Diskriminierung im Amifostin-Arm signifikant besser. Kein signifikanter Unterschied konnte für die Lebensqualität festgestellt werden.

    • In der randomisierten, kontrollierten, nicht verblindeten Studie von Rick et al. (2001) erhielten Patienten mit refraktärem oder rezidiviertem Keimzelltumor nach einer Induktionschemotherapie mit Paclitaxel, Ifosfamid und Cisplatin eine Hochdosischemotherapie mit Carboplatin, Etoposid und Thiotepa. Die Interventionsgruppe erhielt Amifostin während die Kontrollgruppe keine Intervention erhielt. Die Neuropathie wurde durch den Arzt mittels NCI-CTC erhoben. Durch die zusätzliche Gabe von Amifostin konnte hier kein neuroprotektiver Effekt gesehen werden.

    • Zwei der zehn Studien geben Hinweise darauf, dass Amifostin keine Auswirkungen auf neurophysiologisch messbare Parameter der CIPN hat (Hilpert 2005, De Vos 2004).

    • Zwei weitere Studien geben Anhaltspunkte dafür, dass Amifostin das Auftreten von selbsteingeschätzten, mit CIPN verbundenen Symptome nicht vermindern kann (Leong 2003, Kanat 2003).

    • Vier der zehn Studien geben Hinweise darauf, dass Amifostin die von Ärzten eingeschätzte Häufigkeit und Ausprägung von CIPN verringert (Hilpert 2005, Lorusso 2003, Kanat 2003, Kemp 1996), wohingegen sechs Hinweise darauf geben, dass Amifostin keine solche Wirkungen hat (Leong 2003, De Vos FY 2004, Rick 2001, Planting 1999, Gelmon 1999, Gallardo 1999).

    • Die Autoren der systematischen Übersichtsartikel der Cochrane Gruppe (Alberts JW 2014) kommen zu dem Schluss: „The eligible studies evaluating the use of amifostine as a neuroprotective agent against the neurotoxicity of cisplatin and other chemotherapy agents are inconclusive in demonstrating efficacy, primarily because few studies utilised quantitative measures of neurotoxicity."

Aussagen in Leitlinien

Die S3-Leitlinie der AWMF zur Komplementärmedizin bei onkologischen Patient*innen (2021) erwähnt Amifostin nicht. Die Leitlinie zur Supportivtherapie bei onkologischen Patient*innen (2020) sowie die ASCO Leitlinie (2014) spricht eine „sollte" Empfehlung gegen den prophylaktischen Einsatz von Amifostin aus.

Sicherheit

Amifostin führt häufig zu unerwünschten Reaktionen wobei die Hypotonie die häufigste und auch dosislimitierende Nebenwirkung ist. Zusätzlich können Übelkeit und Erbrechen zudem ein metallischer Geschmack, Somnolenz und Überempfindlichkeitsreaktionen mit Fieber bis hin zur Anaphylaxie auftreten. Eine langsame intravenöse Gabe erhöht die Gefahr einer Hypotonie. Eine subkutane Gabe ist möglich erhöht aber die Rate an Überempfindlichkeitsreaktionen. Die unerwünschten Wirkungen sind reversibel.

Literatur

Albers JW, Chaudhry V, Cavaletti G, Donehower RC. Interventions for preventing neuropathy caused by cisplatin and related compounds. Cochrane Database Syst Rev. 2014 Mar 31;(3):CD005228.

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De Vos FY, Bos AM, Schaapveld M, de Swart CA, de Graaf H, van der Zee AG, et al. A randomized phase II study of paclitaxel with carboplatin +/- amifostine as first line treatment in advanced ovarian carcinoma. Gynecol Oncol. 2005 Apr;97(1):60-7.

Gallardo D, Mohar A, Calderillo G, Mota A, Solorza G, Lozano A, et al. Cisplatin, radiation, and amifostine in carcinoma of the uterine cervix. Int J Gynecol Cancer. 1999 May;9(3):225-230.

Gelmon K, Eisenhauer E, Bryce C, Tolcher A, Mayer L, Tomlinson E, et al. Randomized phase II study of high-dose paclitaxel with or without amifostine in patients with metastatic breast cancer. J Clin Oncol. 1999 Oct;17(10):3038-47.

Hilpert F, Stähle A, Tomé O, Burges A, Rossner D, Späthe K, et al. Neuroprotection with amifostine in the first-line treatment of advanced ovarian cancer with carboplatin/paclitaxel-based chemotherapy--a double-blind, placebo-controlled, randomized phase II study from the Arbeitsgemeinschaft Gynäkologische Onkologoie (AGO) Ovarian Cancer Study Group. Support Care Cancer. 2005 Oct;13(10):797-805.

Kanat O, Evrensel T, Baran I, Coskun H, Zarifoglu M, Turan OF, et al. Protective effect of amifostine against toxicity of paclitaxel and carboplatin in non-small cell lung cancer: a single center randomized study. Med Oncol. 2003;20(3):237-45.

Kemp G, Rose P, Lurain J, Berman M, Manetta A, Roullet B, et al.Amifostine pretreatment for protection against cyclophosphamide-induced and cisplatin-induced toxicities: results of a randomized control trial in patients with advanced ovarian cancer. J Clin Oncol. 1996 Jul;14(7):2101-12.

Leong SS, Tan EH, Fong KW, Wilder-Smith E, Ong YK, Tai BC, et al. Randomized double-blind trial of combined modality treatment with or without amifostine in unresectable stage III non-small-cell lung cancer. J Clin Oncol. 2003 May 1;21(9):1767-74.

Lorusso D, Ferrandina G, Greggi S, Gadducci A, Pignata S, Tateo S, et al. Phase III multicenter randomized trial of amifostine as cytoprotectant in first-line chemotherapy in ovarian cancer patients. Multicenter Italian Trials in Ovarian Cancer invesitgators. Ann Oncol. 2003 Jul;14(7):1086-93.

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