Hintergrund
Acetylcystein (ACC) ist ein Derivat der nicht-essentiellen Aminosäure Cystein. Nach oraler Aufnahme wird ACC nahezu vollständig resorbiert und unterliegt einem hohen first-pass-Effekt. In der Leber erfolgt die Metabolisierung durch Deacetylierung in Cystein welches wiederum in Glutathion gespeichert wird. Cystein ist die wichtigste und kritischste Aminosäure des Tripeptids Glutathion. Grund hierfür ist, dass Cystein isoliert instabil ist und rasch oxidativ degeneriert wird, daher stellt Glutathion auch eine Speicherform des Cysteins dar.
Der Wirkungsmechanismus von ACC als Antidot der Paracetamol Intoxikation ist verstanden und beruht auf der vermehrten Bildung von Glutathion. Dagegen wird der sekretolytische Wirkungsmechanismus weiterhin diskutiert. Zur Prophylaxe der Chemotherapie induzierten Neuropathie wird die vermehrte Glutathion Synthese als Wirkungsmechanismus angenommen (siehe auch Glutathion bei CIPN).
Peroral verabreichtes ACC wurde in der Prophylaxe der Chemotherapie induzierten peripheren Neuropathie untersucht. ACC ist als Arzneimittel zugelassen zur sekretolytischen Therapie zudem ist es das Antidot bei der Paracetamol Intoxikation.
ACC ist ein rezeptfreies, apothekenpflichtiges Arzneimittel.
Die Kosten sind gering. Eine Selbstanwendung ist möglich.
Wirksamkeit
Zum Einsatz in der onkologischen Supportivtherapie gibt es Ergebnisse aus Interventionsstudien zu folgenden Indikationen:
Prophylaxe der Chemotherapie-induzierten peripheren Neuropathie (CIPN) verursacht durch Oxaliplatin: Es gibt einen Anhaltspunkt für die Wirksamkeit von ACC zur Prophylaxe der Oxaliplatin induzierten Neuropathie, hierzu wurden folgende Studien ausgwertet:
In der placebokontrollierten, verblindeten Studie von Lin (2006) erhielten 14 Patienten mit kolorektalem Karzinom eine Oxaliplatin basierte Chemotherapie. Die Interventionsgruppe erhielt 1,2g ACC pro Tag während die Kontrollgruppe ein Placebo erhielt. Die Neuropathie wurde durch den Arzt erhoben (NCI-CTC) und es wurden neurophysiologische Messungen vorgenommen. Die durch den Arzt erhobene Neuropathie war im Interventionsarm signifikant geringer, allerdings ohne dass sich in den neurophysiologischen Untersuchungen zwischen den Studienarmen ein signifikanter Unterschied zeigte.
In der placebokontrollierten doppelblinden Studie von Bondad (2020) erhielten 32 Patient*innen mit kolorektalem- oder Magen-Karzinom, die sich 8 Kursen einer Chemotherapie mit Oxaliplatin und Capecitabin unterzogen, 1h vor der Chemotherapie entweder Placebo oder 1200mg ACC oral. Die Schwere der Neuropathie (NCI-CTCAE 2020) war der primäre Endpunkt. Die Neuropathie war in der Behandlungsgruppe geringer, auch wenn in den ebenfalls durchgeführten sensorischen neurophysiologischen Untersuchungen kein eindeutiger Unterschied gezeigt werden konnte.
Prophylaxe der Chemotherapie-induzierten peripheren Neuropathie (CIPN) verursacht durch Paclitaxel: Es gibt einen Anhaltspunkt für die Wirksamkeit von ACC zur Prophylaxe der Paclitaxel induzierten Neuropathie, hierzu wurde folgende Studie ausgewertet:
In der kontrollierten klinischen Studie von Khalefa (2020) wurden 75 Patient*innen mit Brustkrebs, die adjuvant Paclitaxel 80mg/m2 wöchentlich für 12 Wochen erhielten, in 3 Gruppen randomisiert: Niedrig-Dosis ACC (1200mg/Tag), Hochdosis ACC (1200mg 2x/Tag) und eine Kontrollgruppe. Die Inzidenz und verschiedenen Grade der Neuropathie nach NCI-CTCAE 2020 diente als primärer Endpunkt. Nach 12 Wochen waren dosisabhängig die Inzidenzen der PNP in den behandlungsgruppen geringer (high Dosie 28,6%, LowDose 61,9% und Kontrollgruppe (100%).
Aussagen in Leitlinien
Die Leitlinie der AWMF zur Komplementärmedizin (2023) erwähnt Acetylcystein nicht. Die Leitlinie zur Supportivtherapie bei onkologischen Patient*innen (2020) spricht sich, ebenfalls wie die Leitlinie der ASCO (2020) aufgrund von fehlenden Langzeitdaten zur Sicherheit in der Tumortherapie gegen den Einsatz in der Prophylaxe aus.
Sicherheit
ACC führt nur sehr selten auch bei hohen Dosen von mehreren Gramm pro Tag (bei der Gabe als Antidot während einer Paracetamol Intoxikation) zu unerwünschten meist gastrointestinalen Wirkungen, die reversibel sind.
Literatur
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Bondad N, Bostani R, Barri A, Elyasi S, Allahyari A - Protective effect of N-acetylcysteine on oxaliplatin-induced neurotoxicity in patients with colorectal and gastric cancers: A randomized, double blind, placebo-controlled, clinical trial - Randomized Controlled Trial J Oncol Pharm Pract. 2020 Oct;26(7):1575-1582.doi: 10.1177/1078155219900788.Epub 2020 Feb 17.
Hekmat NN, Cicek D. Acetylcystein. Fortbildungstelegramm Pharmazie. Webseite: https://www2.hhu.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/Fortbildungsartikel/ACC_fuer_FortePharm_2013.pdf. (Letzter Zugriff: 28.02.2018)
Hershman DL, Lacchetti C, Dworkin RH, Lavoie Smith EM, Bleeker J, Cavaletti G, et al. Prevention and management of chemotherapy-induced peripheral neuropathy in survivors of adult cancers: American Society of Clinical Oncology clinical practice guideline. J Clin Oncol. 2014 Jun 20;32(18):1941-67.
Khalefa HG, Shawki MA, Aboelhassan R, Wakeel LME Evaluation of the effect of N-acetylcysteine on the prevention and amelioration of paclitaxel-induced peripheral neuropathy in breast cancer patients: a randomized controlled study Randomized Controlled Trialb Breast Cancer Res Treat. 2020 Aug;183(1):117-125. doi: 10.1007/s10549-020-05762-8.Epub 2020 Jun 29.
Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Supportive Therapie bei onkologischen PatientInnen - Langversion 1.1, 2017, AWMF Registernummer: 032/054OL, http://leitlinienprogramm-onkologie.de/Supportive-Therapie.95.0.html (Zugriff am 25.01.2018)
Lin PC, Lee MY, Wang WS, Yen CC, Chao TC, Hsiao LT, et al. N-acetylcysteine has neuroprotective effects against oxaliplatin-based adjuvant chemotherapy in colon cancer patients: preliminary data. Support Care Cancer. 2006 May;14(5):484-7